Magie der Farben: Malerei von Miriam Jarrs

Unversehens fühlt sich der Betrachter der magischen Anziehungskraft der großformatigen Gemälde von Miriam Jarrs ausgesetzt; so auch vor “drei tage”: inmitten eines zart-grünen Blätterwaldes glaubt man sich dem Duft des Frühlingserwachens, dem zarten Lispeln der Blätter kaum erwehren zu können. Diesem wohltuenden Eindruck widersprechen rätselhafte Phänomene. Das Wachstum der Äste und Blätter scheint nicht der Natur zu gehorchen: die Pflanzen streben in alle Richtungen, Astgabeln zeigen zum Boden, Blätter richten sich nach unten und nach oben, nach links und rechts aus; die Baumstämme wachsen gar von oben nach unten.

Auch die Zwischenräume haben ein geheimnisvolles Eigenleben: Das lasierende Weiß drängt sich aus dem Hintergrund in den Vordergrund; es umschmeichelt die Blätter, um diese schließlich zu ersetzen und ganze Bildpartien zu dominieren. Die Dominanz des Weiß’ steigert sich zu kleinen Explosionen. Dynamische Strudel und helle Blitze durchzucken den Natur- und Bildraum. Gleißendes Licht dringt allerorten durch den Blätterwald. Inmitten dieser flimmernden Natur- und Farberscheinungen taucht unversehens die Schimäre einer Figur auf. Eine stille Zeugin, die durch ihre geheimnisvolle Gegenwärtigkeit die surreale Atmosphäre unterstreicht.

Nicht nur “drei tage” enthebt die Gegenstände und Figuren ihrer Erdanziehung – die Künstlerin hat die Darstellung des Waldes “verkehrt herum” gemalt -, auch andere Arbeiten verweigern den Gegenständen ihre gewohnte Erscheinung oder ihren üblichen Kontext. Allein die amorphen Ovaloide in “be my son” stellen die Imaginationsfähigkeit der Künstlerin unter Beweis.

Komplementär zu dieser irritierenden Gegenstands-Auffassung steht der raffinierte Einsatz der Farbe. Unter nächtlich gelben Himmeln glühen feuerrote Untergründe, schimmern weiße Bäume, flimmern blaue Flüsse oder erscheinen transluzide Figuren – die leuchtenden Farben der nächtlichen Erscheinungen, in denen Protagonisten rätselhafter Herkunft agieren, sind von betörender Ausstrahlung.

Gleichermaßen verwendet die Künstlerin Farbe losgelöst von gegenständlicher Identifizierbarkeit. Das Beispiel der “drei tage” vermag dies verdeutlichen: Einerseits sind die weißen amorphen Strukturen als Farbe, als abstrakte Elemente, auf der Leinwand wahrnehmbar. Andererseits werden sie erst im Kontext mit den als Baum bzw. Blätter identifizierbaren Partien des Bildes als gegenständlich dekodierbar. Die Künstlerin versteht die Farbe als abstrakte Komponente, die den Betrachter in die Tiefe des Bildes zieht. Die gegenständlichen Partien behandelt sie gegenläufig und läßt sie nach vorne drängen. Dieses Nebeneinander von Abstraktion und Gegenständlichkeit verstärkt sich gegenseitig und übt einen Sog aus, der sich gleichermaßen wieder aufgehebt. Die großen Formate tragen ihren Teil dazu bei, daß der Betrachter sich dieser magischen Wirkung nicht entziehen kann. Die Künstlerin provoziert einen Schwebezustand, der Tiefe und Oberfläche, Licht und Dunkel in eine schattenlose, magisch-luzide Szenerie verwandelt.

Jenseits der Kategorien Abstraktion und Figuration schöpft die Künstlerin das große Potential aus, das der Farbe innewohnt. Sie vereinigt malerische Mittel zu einem Bildgewebe, das die Oberfläche der Wahrnehmung gewissermaßen durchdringt. Erst der Einsatz der Farbe als bewußtseinserweiterndes Medium ermöglicht es, zur Essenz des gewöhnlich Sichtbaren zu langen. Die zeitlose Bildsprache von Miriam Jarrs bietet eine Art Hypertext der menschlichen Wahrnehmung.

Dr. Sven Nommensen, Kunsthistoriker
(Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig)

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